Eröffnungsrede frágil
Miriam Wahl
Juni 2021
Guten Abend, ich möchte Sie auch ganz herzlich an diesem besonderen Ort und zum Betrachten dieser feinen Arbeiten begrüßen. Manche von Ihnen kennen schon Sinjas Werke, andere kennen schon den Kerner, manche kennen beides nicht und treten somit vielleicht in gleich zwei fremde Welten ein. Ich möchte heute Ihren Blick darauf lenken, dass hier eine sehr interessante Begegnung stattfindet – eine Begegnung zwischen etwas sehr Stabilem und etwas sehr Fragilem.
Der Kerner ist darauf ausgelegt sehr lange hier zu stehen, und das hat funktioniert. Es gibt hier Steine aus dem 13. Jahrhundert. Dieses Gebäude ist stabil, solide, fest und standhaft. Es hat schon viel beherbergt, tausende von Menschen sind ein und ausgegangen. Im 13./14.
Jahrhundert wurde es als Kapelle und Beinhaus errichtet, daher der Name Kerner (er bedeutet Beinhaus). Der Kerner war, bevor das Rathaus am Marktplatz gebaut wurde, auch über 100 Jahre lang der Sitz der Ratsherren und wurde vielfach von der Stadt genutzt, zum Beispiel für die Armenspeisung. Im 17. Jahrhundert wurde er dann von der Lutherischen Kirchengemeinde übernommen. Und mein Opa hat mir kürzlich erzählt, dass er hier Kindergottesdienst oder Konfirmationsunterricht hatte…
Aber dieses Gebäude ist immer mehr oder weniger gleich geblieben, seit etwa 700 Jahren…
Sinja ist noch nicht so lange hier, 26 Jahre um genau zu sein. Und diese Zeichnungen sind noch jünger, sie sind in diesem und im letzten Jahr entstanden. Sie werden vermutlich auch nicht so lange leben wie der Kerner, obwohl Sinja gutes Papier verwendet. Diese Zeichnungen sind fragil, was im Spanischen auch vergänglich bedeutet. Sie sind fragil indem sie auf Papier entstanden sind. Aber sie sprechen auch von etwas Fragilem, wenn man bei Zeichnungen von Sprechen sprechen kann…
Ich möchte aber versuchen, davon zu sprechen wovon diese Zeichnungen – auf ihre Art – sprechen. Es ist eine besondere Sprache, die anders ist als unsere Alltagssprache, als unsere begriffliche, gegenständliche Sprache, und wenn man nicht so viel mit Kunst zu tun hat, kann es schwer sein, einen Zugang zu dieser Sprache der Bilder zu finden. Daher möchte ich versuchen, mit ein paar Beobachtungen das Sehen anzuregen, die Wahrnehmung und die Empfindung anzuregen, denn das sind sozusagen die Organe, mit denen wir der Sprache dieser Bilder lauschen können.
Dazu mache ich einen kurzen Umweg über den Prozess, der hier in den letzten Wochen stattgefunden hat, den Prozess des Kuratierens. Sinja hat mich gefragt, ob ich ihr helfe, ihre Bilder aufzuhängen. Wir haben das schon mal gemacht bei ihrer letzten Einzelausstellung in einer Praxis, und da hat Sinja gemerkt, wieviel Zeit es braucht, Kunstwerke in Räumen zu komponieren. Deswegen hatten wir jetzt wochenlang Zeit und haben uns immer wieder hier getroffen, es war ein sehr schöner Prozess.
Eine wesentliche Frage, die sich uns bei der Kuration gestellt hat war: wie können diese fragilen, zarten Zeichnungen in diesem soliden, kraftvollen Raum bestehen? Wie können sie ihre Ruhe und ihren inneren Raum an diesen unruhigen steinernen Wänden entfalten? Wie verbinden wir das Zarte, Fragile, Bewegte mit dem Festen, Soliden und auch Gewaltigen?
Kuratieren ist Austarieren, Kräfte messen, mit Kräften umgehen, Blicke lenken und Zwischenräume gestalten.
Hier im Kerner haben wir es mit einem etwa quadratischen Raum zu tun und einem steinernen Gewölbe, das sich darüber aufspannt. Das Quadrat strahlt Stabilität und Festigkeit aus. Es war im mittelalterlichen Sakralbau meist die Grundfigur auf die sich das Gebäude gründet. Auch die Steine werden zumindest rechteckig gehauen, damit man sie gut aufeinanderstapeln kann, alles für Stabilität und Dauerhaftigkeit.
Sinjas Blätter sind auch rechteckig, manche sogar quadratisch. Doch innerhalb dieses Formats begegnet uns häufig eine andere Figur, und zwar der Kreis. Mal der Kreis in seiner Reinform, mal in runden, geschwungen Linien nur als Geste, dann wieder Kreise, die nicht rund, sondern oval, verzerrt, bewegt sind, Kreise, die sich berühren und durchdringen. Sie sind mal mit sehr feinen Linien gezeichnet, zum Teil Millimeter dünn, mal mit Tusche sachte aufs Blatt gelegt, und zeugen von großer Konzentration.
Schauen Sie sich dagegen die Linien an, die sich aus den Zwischenräumen der Steine ergeben. Grobe, unregelmäßige Linien, aus Zement. Aber auch diese bilden ihre eigenen Muster, lassen eine Art Zeichnung entstehen, eine große Raumzeichnung. Dieser Raum ist auch ein Werk für sich. Die Wände sind Zeichnungen. Diese wunderschöne Fenstermalerei wirft zu mancher Tageszeit farbiges Licht auf den Boden. Und hier über uns hängt ein mächtiger Leuchter. Kreisförmig! – ein erstes Begegnungsmoment.
Wie verbinden sich diese organischen, zarten, dem Kreis verwandten Zeichnungen mit diesem soliden, quadratischen steinernen Raum?
Wir haben die beiden Elemente getrennt, um sie zu verbinden. Das klingt komisch, weil sie jetzt hier so schön zusammenwirken. Doch man hätte ja auch sagen können, wir hängen die Bilder genauso kreuz und quer wie die Steine. Wir hätten dem Raum in seiner Dynamik folgen können. Wir hätten auch bis unter die Decke hängen können, es wäre ja genügend Platz gewesen. Oder wir hätten uns erst gar nicht getraut, hier Kunst aufzuhängen, weil der Raum selber schon so schön ist. Ganz gegensätzlich stand sogar mal kurz die Idee im Raum, weiße Stellwände vor die Mauern zu stellen, weil die Steine so unruhig sind und die Zeichnungen unterzugehen drohten.
Doch dann wurde uns bald klar, dass wir die beiden Elemente – Wand und Bild – trennen mussten. Wir konnten nicht mit der Dynamik der Steine gehen. Und so haben wir mit den Zeichnungen eine zweite Ebene auf die Wand gelegt. Wir haben uns ziemlich streng an ein Band gehalten, an dem wir die Zeichnungen aufgereiht haben. Sie sehen hier, es zieht sich ein Band durch den Raum, mit einem kleinen Ausbrecher hier. Eine zweite Ebene, die der weißen, zarten Blätter, vor der steinernen Wand. Wir haben sozusagen die Wand ein bisschen ignoriert.
Und das Interessante ist, dass sie sich jetzt überall mit den Zeichnungen verbindet. Hier greifen die Zeichnungen das Quadrat selber auf und lösen es dann wieder auf. Dort sieht es so aus, als verdichteten sich in den Farbtupfern die Backsteine zu einem Kreis. Hier haben wir in ganz anderer Gestaltung das Hell-Dunkel der Steine und ihrer Zwischenräume. Durch die Ruhe der Zeichnungen darf die Wand lebendig sein. Durch die Zartheit der Zeichnungen darf sie mächtig und stabil sein. Und durch die Stabilität und Solidität der Wand dürfen die Zeichnungen ihre ganze Zartheit aussprechen.
Ich wollte davon sprechen, wovon diese Zeichnungen sprechen. Auch das geht wieder im Vergleich mit dem Kerner. Das Quadrat ist solide. Es wird zum Bauen genutzt, weil es unbewegt ist. In der mittelalterlichen Mystik steht das Quadrat für das Irdische. Der Kreis dagegen ist in fortwährender Bewegung. Er hat kein Anfang und kein Ende, sondern erneuert sich immer selbst. Der Kreis ist das Prinzip für das Leben.
Sinjas Zeichnungen sind Umgang mit diesen Kräften. Sie sind nicht intellektuell zu deuten – sodass man sagen könnte: Hier stellt sie dar das Leben in dieser und jener Form, dort das materielle Irdische. Das wäre unkünstlerisch. Sinja stellt diese Kräfte nicht dar, sondern arbeitet mit ihnen, aus ihnen heraus. Sie lässt sich ein auf die Kräfte und Gesten die sich in ihr als Mensch darleben und bringt sie auf dem Papier in eine Form. Und wenn man den Bewegungen, den Gesten, den Formen zuschaut, kann man spüren, dass hier trotz des Fixierten der Zeichnung eine fortwährende Verwandlung stattfindet:
Hier ist es schwer, dort wird es leicht.
Hier schließt sich etwas ab, dort öffnet sich etwas.
Hier verdichtet sich etwas, dort löst es sich auf. Hier Zentrierung, dort Peripherie, hier Chaos dort Form, hier Licht und dort Dunkelheit, hier Innen, dort Außen…
Was sich zwischen dem Raum hier und Sinjas Zeichnungen abspielt, ein Kräftespiel, eine Polarität von Form und Bewegung, oder von Festigkeit und Fragilität, von Stärke und Zartheit, das spielt sich auch in den Zeichnungen selbst ab. Es ist ein feines Spiel der Kräfte, ein Ringen um ihren Ausgleich.
Sinjas Arbeiten sprechen von Begegnung. Es begegnen sich Gegensätze. Aber es geht auch um Begegnung an sich. Sie sehen überall, dass sich Formen durchdringen. Kommen sie gerade zusammen? Oder lösen sie sich voneinander?
Dazwischen entstehen Zwischenräume. Auch damit arbeitet Sinja. Der Umraum des Blattes, das Weiß wird manches Mal selber zum Protagonisten, wird von der Linie hervorgeholt und umspielt. Die Linie ergreift den Raum und versetzt ihn in Bewegung.
In diesen Zeichnungen spielt sich das Leben ab. Das Leben ist immer in Bewegung, es verwandelt sich fortwährend. Wenn es erstarrt, wird es krank oder stirbt. Leben ist Bewegung und Begegnung. Von beidem handeln diese Zeichnungen.
Das Leben ist fragil. Es ist vergänglich und in seiner Lebendigkeit immer gefährdet. Aber es ist auch ewig, weil zum Leben das Vergehen dazugehört. Dazu muss man nur in die Natur schauen. Die Kräfte des Aufblühens und des Vergehens sind in einem ewigen Kreislauf miteinander verbunden. Aus einem scheinbar festen Kern oder Samen wächst eine Blume, gerinnt zu einer wunderschönen Form – und auf dem Höhepunkt ihres Seins beginnt sie zu welken, verliert ihre Form, und löst sich schließlich auf in ihren Umraum, in die übrige Natur. Und dann geht das Ganze wieder von vorne los.
So fragil wie das Leben ist, es ist ebenso stark. Das Leben weiß, dass es vergehen muss, um wieder zu leben. Ist das Fragile, das Zarte, das, was auch gefährdbar ist durch Festhalten, Überformung und Erstarrung, ist dieses Fragile vielleicht das eigentlich Starke? Ist es nicht eigentlich unglaublich stark, sich im Gleichgewicht zwischen den Polaritäten zu halten, in den Zwischenräumen sich zu bewegen, bewegt zu sein, ohne sich in Bewegung aufzulösen, verwandelbar zu sein ohne sich aufzugeben, formlos zu werden und eine neue Form anzunehmen…?
Dieses kleine Plädoyer für die Stärke des Fragilen, Bewegten, Lebendigen, das ich ein bisschen im Gegensatz zur Festigkeit und Stabilität des Kerners gesetzt habe, soll den Kerner natürlich in keinster Weise beleidigen.
Lieber Kerner, es ist gut, dass du so stabil bist, dass du schon so vielen Menschen Raum geboten hast. Es ist gut, dass wir Menschen Häuser bauen und der Welt Form geben.
Aber es ist auch gut und lebenswichtig, innerhalb dieser Formen für Bewegung und Begegnung zu sorgen. Es braucht Räume, in denen wir zart und fragil sein dürfen, und uns des Lebendigen bewusstwerden, das überall um uns ist und vor allem auch in uns.
Liebe Sinja, danke, dass du diesen Ort hier mit dem feinen Leben deiner Zeichnungen gefüllt hast, welches hoffentlich für viel innere Bewegung beim Betrachten und zu schönen Begegnungen der Betrachtenden führen wird.