Eröffnungsrede Falllinie
Thomas Vinson
Alaró (Spanien), 9. September 2023
Der Titel „Falllinie“ von Sinja Kempers Ausstellung macht irgendwie Sinn, wenn man ihre Arbeiten anschaut. Diese beschäftigen sich mit der Linie, die weiter zu Boden fallen würde, wenn man die Zeichnung weiterdenkt.
Doch die präzise Definition lautet: „Auf einer geneigten Fläche die Linie des größten Gefälles“ Diese Beschreibung lässt viel Raum für Interpretation frei.
Um mehr über die Entstehung der Arbeiten zu erfahren, war ich mit Sinja Kemper vor und während des Ausstellungsaufbaus im Austausch über Telefon und Textnachrichten. Ihre Arbeiten entstehen aus der Intuition heraus, d.h. ihre Hand zeichnet schneller, als der Geist, der sie kontrollieren möchte. „Es findet eine Sortierung im seelischen Raum statt“, wie sie selbst sagt. Viele Formen wiederholen sich, ohne genau gleich zu sein. Da stellt sich auch die Frage der Reproduzierbarkeit der jeweiligen Arbeit. Diese entwickeln sich durch kontinuierliche Aktivität. Das kleine Format ist von der Künstlerin ein oft gewähltes Maß. Doch hier im Turm an der Stirnwand wird durch die Hängung als Block der 85 kleinen Einzelzeichnungen ein neues Gesamtkunstwerk gebildet.
Durch die besondere Hängung dieser großen Arbeit, die bei jeder Zeichnung eine kleine Schattenfuge sichtbar lässt, zeigt Sinja Kemper, wie das Material Papier, das wir alle als zweidimensionales Medium verstehen, plastisch wirken kann und so zum Relief wird. Dieser Eindruck verstärkt sich noch deutlicher durch das hängende Werk im Lichtraum, das im Kunstturm für den Ort gemacht wurde, wo Papier zur Skulptur wird.
Der Prozess ist das Werk. In Serien zu denken, mehrere Varianten zu schaffen mit dem Vernichten der „nicht guten“, was dazu gehört, um sie nicht mehr sehen zu müssen. „Aus den Augen, aus dem Kopf“. Die „mittelguten“ werden behalten, Details ausgeschnitten, die neue Formate bilden.
Volker Schönhals möchte ich danken, dass er mich auf Sinja Kempers Arbeiten aufmerksam gemacht hat, die ich damals im kunsthistorischen Museum in Marburg zusammen mit Anja Köhnes Arbeiten, die auch schon bei uns ausstellte, zum ersten Mal sah. Bei diesen Arbeiten fielen mir Begriffe, wie subtil, fein, intim und zurückhaltend ein. Auch der Umgang mit dem Raum war sicher. Durch diese Setzung hier im Turm hat sich dieses Gefühl bei mir nur bestätigt.
Ich danke Sinja dafür!